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Adventsgeschichte

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Das Licht in der Blindgasse - Eine kleine Adventsgeschichte

Am unteren Ende des Marktplatzes zweigt relativ unscheinbar zwischen den vornehmen Häusern eine kleine Gasse ab. Folgt man ihr, so biegt nach einigen Metern eine noch unscheinbarere Gasse nach rechts ab, die man nur in wenigen Stadtplänen verzeichnet findet, da sie so klein ist. Blindgase wurde sie irgendwann einmal genannt und das vielleicht deshalb, weil sie nur ein kurzes Stück bis zu einem Haus führt und dort endet. Gerade mal sieben Hausnummern gibt es in dieser Gasse, drei ungerade auf der rechten und drei gerade auf der linken Seite. Das Haus am Ende der Gasse, obwohl weder links noch rechts, sondern eben einfach in der Mitte gelegen, hat die Hausnummer Sieben bekommen. In diesem Haus war früher einmal ein kleines Geschäft. Hans Ohrenbeißer verkaufte dort allerlei kleinen Handwerkerbedarf, Schrauben, Nägel und das passende Werkzeug dazu. In seiner kleinen Werkstatt hinter dem Haus hat er kleine Reparaturen durchgeführt, denn er war sehr geschickt. Die Leute kamen mit ihren kaputten Fahrrädern zu ihm. Aber auch, um ihre Messer schleifen zu lassen. Selbst kleinere Möbelstücke zimmerte Herr Ohrenbeißer in seiner Werkstatt.
Entgegen seinem Namen war Hans Ohrenbeißer ein sehr friedlicher Mensch. Er war nicht etwa Boxer oder so in einem früheren Leben. Nein, er wohnte schon immer im Haus Nummer Sieben, wie auch schon seine Eltern und Großeltern. Seine Frau ist früh gestorben und sie hat ihn mit einer bildhübschen Tochter zurückgelassen. Ina war sein ein und alles. Wenn er am Morgen aufwachte und ihr Lächeln sah, dann wusste er, dass es sich auch diesen Tag wieder lohnte zu leben und den nächsten und so weiter. Dieses Lächeln war sein Sonnenschein, auch wenn es um ihn herum immer trüber wurde. Immer weniger Leute kamen in sein Geschäft, schließlich machte er den Laden zu, er war zu alt, um große Modernisierungen durchzuführen, die sein Geschäft attraktiver gemacht hätten. Daher verirrte sich auch kaum ein Mensch mehr in die Blindgasse, außer dem Postboten, der die wenigen Briefe brachte, die Herr Ohrenbeißer noch bekam.
Irgendwann hat seine Tochter geheiratet. Ein ganz netter Mann vom anderen Ende der Stadt. Herr Ohrenbeißer freute sich für sie, auch wenn er nun allein im Haus zurück blieb, in seiner kleinen Wohnung im ersten Stock über dem Laden. Doch trotz seines Alters war er noch gut zu Fuß und konnte seine Tochter und dann auch das bald geborene Enkelkind regelmäßig besuchen. Dann konnte er immer etwas Lebensfreude tanken, die ihm über die stillen Tage in seiner einsamen Wohnung hinweghalf. An den langen Tagen bastelte er liebevoll in seiner Werkstatt aus Holz allerlei Spielzeug für den kleinen Jonas, Holzfiguren, eine Krippe, ein Polizeiauto, eine Eisenbahn. Immer hatte er neue Ideen und Jonas freute sich schon darauf, was sein Opa ihm als nächstes mitbrachte.
So hätte es noch lange weitergehen können. Doch das Leben spielt mit den Menschen und gerade wenn man dabei ist, es sich schön und gemütlich zu machen, reißt es einen jäh aus den süßen Träumen. Eines Abends stand Ina vor der Tür, in der einen Hand einen Koffer, in der anderen den kleinen Jonas. Als Herr Ohrenbeißer Tochter und Enkel da stehen sah, wusste er, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, aber er fragte nicht, führte die beiden in die gemütliche Wohnstube und kochte erst einmal einen Tee. Seither wohnen Ina und Jonas wieder in der Blindgasse, im zweiten Stock unter dem Dach.
Ina hat einen guten Beruf bei der Bank, das Geld reicht aus, so dass sie für sich und ihren Sohn sorgen kann. Mit ihren Kollegen auf der Arbeit versteht sie sich gut. Doch oft vermisst sie die Geborgenheit, wenn sie nach Hause kommt. Aber ihre Tage sind so ausgefüllt, dass sie kaum zum Nachdenken kommt. Auch kommt ihr Vater langsam in ein Alter, in dem er nicht mehr alles selbst erledigen kann und mehr und mehr muss Ina sich um all die anfallenden Reparaturen kümmern, damit das Haus in der Blindgasse in einem einigermaßen guten Zustand bleibt.
Jonas hat gute Noten in der Schule. Mit seinen Freunden versteht er sich gut. Doch wenn ein Schulfest oder eine Sportveranstaltung anstehen – Jonas spielt leidenschaftlich gerne Fußball – dann wird ihm doch bewusst, wie sehr ihm ein Vater fehlt, auf den er stolz sein kann und der stolz ist auf seinen Sohn, nicht nur, wenn er wieder einmal das entscheidende Tor geschossen hat. Auch wenn seine Mutter ihm so viel Liebe schenkt, kann sie doch den Vater nie ganz ersetzen.
Es gab immer wieder Männer, die um Ina warben. Sie ist eine attraktive Frau. Aber sie hat auch ihren eigenen Kopf. Nachdem sie ihr Leben nun so gut selbst organisiert hatte, konnte sie keinen Mann brauchen, der nur eine liebe Frau im Haus hinter dem Herd suchte. Sie wollte nicht nur ein kleines Glück, um das Leben etwas angenehmer zu machen und die Einsamkeit zu vertreiben, sondern sie wünschte sich das große Glück, das das ganze Leben durchdrang und einen nie zur Ruhe kommen lässt, sondern hinführt zu immer neuen Entdeckungen.
„Du, Papa“, sagt sie eines Abends zu ihrem Vater, „was ist denn eigentlich mit dem Geschäft? Da steht alles noch so herum, wie du es vor zehn Jahren zurückgelassen hast. Ich habe da eine Idee, was wir machen könnten.“ Ihr Vater blickt sie etwas skeptisch an, er weiß, dass seine Tochter manchmal ungewöhnliche Ideen hat und er staunt immer wieder darüber, was sie so alles fertig bringt. Was hat sie wohl jetzt wieder im Sinn? Über den Laden hat er sich lange keine Gedanken mehr gemacht. Zuerst fand sich kein Mieter, denn wer hätte schon in dieser abgelegenen Gasse einen Laden eröffnen wollen. Nun wollte er auch keinen mehr, denn das bringt ja doch nur Komplikationen mit sich. Aber nun schien seine Tochter ihm ja die ohnehin nicht allzu großen Sorgen um den Laden abgenommen zu haben.
„Ich würde gerne ein kleines Café aufmachen, aber nicht eines für die schicken Leute, sondern eines, wo sich alte und einsame Menschen treffen können. Wir backen selber etwas Kuchen und die Leute können dann bei einer Tasse Tee gemütlich beisammen sitzen.“
„Da steckt aber viel Arbeit drin, wie willst du denn das Geschäft so einfach umbauen?“
„Ach lass mich mal nur machen, ich hab da schon meine Ideen. Den Ladentisch können wir gut als Tresen nehmen, die Regale dahinter für das Geschirr. Da müssen wir nur alles etwas aufräumen und neu Streichen, dann sieht das prima aus und den anderen Krempel schmeißen wir raus, dann haben wir Platz für die Tische.“
Tatsächlich hat Ina mit Hilfe einiger Freunde bis zum Samstag vor dem Ersten Advent alles hinbekommen. Der Laden war nicht wieder zu erkennen. Durch einen glücklichen Zufall hatte sie noch irgendwo Tische und Stühle herbekommen, die sie dann ebenfalls frisch lackiert hatte. Alles glänzte. Am Abend zuvor hat sie mehrere Kuchen gebacken, Kirschstreusel, Marmorkuchen und leckere Plätzchen. Das Teewasser kochte, es gab auch Glühwein und Kinderpunsch. In der Stadt hingen Zettel aus, die auf die Neueröffnung hinwiesen. Manch älteren Menschen in der Nachbarschaft, die sie kannte, hat Ina eine Einladung in den Briefkasten geworfen mit einem Gutschein für ein Stück Kuchen und eine Tasse Tee. Das Café sollte in der Advents- und Weihnachtszeit immer Samstags und Sonntags am Nachmittag geöffnet sein, dann würde man weitersehen.
Für das Schaufenster hat Ina sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Sie hat eine große Krippenlandschaft aufgebaut. Noch war der Stall von Betlehem leer und die Hirten auf den Feldern mit ihren Herden ahnten nichts von dem, was hier bald geschehen würde. Doch von fern waren schon die Heiligen Drei Könige mit ihrem prunkvollen Gefolge zu sehen, mit Pferden, Kamelen und Elefanten. Und die Engel im Himmel beratschlagten schon darüber, wie sie die große Freude auf Erden wohl am eindrucksvollsten verkünden könnten, welche Instrumente man wählten sollte und was wohl der beste Spruch wäre, um die Botschaft von dem, was da geschehen sollte – aber pssst, noch war es streng geheim – am besten rüberzubringen.
Zunächst schien es so, als würde niemand das kleine Café in der kleinen Gasse abseits des Marktplatzes ansteuern, aber dann kam doch eine ältere Dame aus dem Nachbarhaus. Früher, sagte sie, habe sie immer bei Inas Vater eingekauft, kannte auch noch den Großvater. Nun wollte sie mal sehen, was aus dem Laden, der so lange leer gestanden hat, geworden ist. Es kam auch noch ein älterer Herr, der zwei Straßen weiter wohnte. Dann kam eine Familie mit drei Kindern, die den Zettel am Marktplatz gelesen hatten und nun die Krippe anschauen wollten. Bald saß eine kleine Gruppe von Menschen zusammen und man unterhielt sich über dies und jenes. So sollte es nun jedes Wochenende sein. Ein kleiner Kreis älterer Stammgäste bildete sich heraus, die sich schon die ganze Woche auf das Zusammensein im Café freuten. Und immer wieder kamen neue Gäste hinzu.
Besonders freute sich Ina über die Kinder, die ihre Eltern vom Marktplatz weg in die kleine Gasse zogen und staunend die Krippe betrachteten. Und da gab es jedes Wochenende etwas Neues zu entdecken. An einem Wochenende sah man Maria, wie sie ihre Cousine Elisabeth im hintersten Winkel des Gebirges besuchte. In der anderen Woche sah man Maria auf dem Esel mit Josef, wie sie von zuhause aufbrachen. Dann sah man sie in Betlehem vergeblich an verschlossene Türen klopfen. Und dann war der Tag da, an dem das Kindlein in der Krippe lag, die Engel ihren lange vorbereiteten Lobgesang auf Erden anstimmten und die Hirten ganz verwirrt von ihren Schafen zur Krippe eilten.
Auch wenn das Café am Weihnachtstag geschlossen blieb, so war doch ganz neues Leben eingekehrt in die sonst so stille Blindgasse. Und immer wieder machten die Leute bei ihrem Weihnachtsspaziergang einen keinen Umweg vom Marktplatz weg, um nach der Krippe zu sehen. Und an den Abenden, an denen es früh schon dunkel wurde, leuchtete das Licht der Krippe aus dem Schaufenster bis an den Anfang der kleinen Gasse. In der Stadt war ein kleines neues Licht aufgegangen, neues Leben erwacht. Und die Menschen, die in die Blindgasse kamen, nahmen etwas mit von diesem Licht mit nach Hause und so kam es, dass es in der ganzen Stadt etwas heller zu sein schien als zuvor.
An einem Samstag – Ina erinnert sich noch genau an diesen Tag – kam ein junger Mann in das Café. Er setzte sich an einen Tisch im Eck und trank in Ruhe seinen Tee. Dabei las er in seinem Buch und schien die Welt um sich herum nicht wahrzunehmen. Er kam öfter, immer saß er an dem Tisch im Eck. Doch eines Tages fing er an, mit den älteren Menschen zu reden. Und schon nach einiger Zeit wurde er von den Stammgästen sehsüchtig erwartet und herzlich begrüßt. Sie freuten sich, wenn er da war und ihnen zuhörte, wenn sie ihre Geschichten erzählten. Sie freuten sich über sein Lächeln, das sie mit ihren Geschichten auf sein Gesicht zaubern konnten. Und eines Tages merkte auch Ina in ihrem Herzen, dass sie auf das Kommen dieses Gastes wartete. Doch das ist eine andere Geschichte, die wir vielleicht später einmal erzählen wollen.