Die Heiligen

21.4. Anselm v.Canterbury

Anselm von Canterbury

Anselm von Canterbury
1033-1109
Bischof
Kirchenlehrer

Anselm von Canterbury

Der heilige Anselm ist "eine der edelsten Gestalten der Kirchengeschichte". Dieser Ehrentitel stammt von P. Franciscus Salesius Schmitt OSB, der das umfangreiche Werk Anselms ins Deutsche übertragen hat und wie kaum ein anderer dieses Werk studiert hat. Anselm gilt als "Vater der Scholastik". In einer Zeit, als sich das wissenschaftliche Studium immer weiter verbreitete, allmählich aus den Schulen der Klöster und Kathedralen heraustrat, und in den neu entstehenden Universitäten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde, legte er maßgeblich den Grundstein dafür, dass die Theologie zur ersten und bedeutendsten aller Wissenschaften wurde.
Uns heutigen Menschen erscheint das ungewöhnlich, wenn Theologie als Wissenschaft bezeichnet wird. Zwar wird auch heute noch Theologie als Wissenschaft an den Universitäten gelehrt, viele aber sind der Meinung, dass Gott, um den es in der Theologie geht, nicht mehr objektiv zugänglich ist. Theologie ist für viele ebenso wie der mit Gott verbundene Glaube zu etwas rein Subjektivem geworden, das nicht mehr durch rationale Argumente allen vermittelt werden kann.
Hier ist die Denkweise Anselms, die exemplarisch für das vorherrschende Denken des gesamten Mittelalters steht, grundverschieden von unserem heutigen Denken. Für Anselm ist Theologie als Wissenschaft von Gott nicht ein Weg unter vielen, sondern er ist fest davon überzeugt, dass jeder Mensch, der sich um reines wissenschaftliches Denken bemüht, zu dem Schluss kommt, dass Gott, und zwar der Gott, den die christliche Theologie in ihren Lehrsätzen vermittelt, existiert und der einzige und wahre Gott ist.
Das Mittelalter war fasziniert von der Harmonie der Welt. Man war überzeugt davon, dass Gott die Welt in ihrer Vollkommenheit geschaffen hat. Man entdeckte diese Harmonie in der Ordnung auf der Erde, die über die unbelebte Natur, die Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen als der Krone der Schöpfung reichte. Man entdeckte diese Vollkommenheit in den Sphären des Himmels, den Bahnen der Planeten, die man sich als kreisrund und unveränderlich vorstellte. Alles hatte seine Ordnung, und Gott war es, der diese Ordnung geschaffen hat und über allem steht. Daher ist Gott für Anselm auch der "über dem Größeres nicht gedacht werden kann".
Somit verstehen wir auch, warum Theologie als die höchste Wissenschaft galt, weil sie sich mit dem Größten beschäftigt, das menschlichem Denken zugänglich ist. Die Naturwissenschaften waren damals noch kaum entwickelt, ja man hätte zur Zeit Anselms auch nicht verstanden, warum man sich mit so etwas Untergeordnetem wie der Natur überhaupt wissenschaftlich beschäftigen sollte. Philosophie, Logik, Grammatik und andere Disziplinen handelten von Gegenständen, die den Menschen betreffen, das Denken, die Sprache und andere Zusammenhänge. Sie waren wichtig, aber auch sie kamen nicht an die Theologie heran.
Das wohlgefügte Weltbild des Mittelalters geriet mit der Neuzeit erheblich ins Wanken. Die Erde war plötzlich größer, als man sie sich vorgestellt hatte. Schließlich erkannte man auch, dass die Zusammenhänge im Universum viel komplizierter sind, als man dachte. Die vollkommenen Kreisbahnen der Planeten waren reine Illusion. Heute wissen wir, dass die Erde keineswegs der Mittelpunkt der Welt ist, sondern nur ein winziger Planet irgendwo im Universum in einem Winkel einer Galaxie, die auch nur eine unter vielen ist.
Wir haben erkannt, wie komplex die Welt ist, wir sind dabei, die Bausteine der Elemente zu erforschen und versuchen zu ergründen, wie Leben entsteht. Sind wir von Gott geschaffen oder haben wir einfach nur das Glück, auf einem Planeten im Universum zu leben, auf dem die Bedingungen momentan so sind, dass Leben, wie wir es kennen, möglich ist? Gibt es an anderen Orten im Universum Leben, das unserem ähnlich ist?
Wenn Wissenschaftler heute die Geheimnisse des Universums erforschen, so wird deutlich, dass unser Denken noch nicht alles erfasst hat. Die Quantenphysik zeigt uns, dass hinter allem eine Welt existiert, in der sich alles, was wir als fest und statisch wahrnehmen, auflöst in kleinste Teilchen und Energie. Dabei ist das, was wir sehen, noch nicht einmal alles, sondern es muss auch die sogenannte dunkle Materie geben, die zwar existiert, aber mit unseren derzeitigen Methoden nicht erkennbar ist.
Unser Forschen und Denken macht immer wieder Entdeckungen, die früher undenkbar waren. Irgendwann wird es vielleicht möglich sein, die Entstehung von Leben und auch von intelligentem Leben mit seinem Denken und Fühlen zu erklären. Vielleicht werden wir auch eine Antwort darauf finden, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. Existiert die Welt, weil Gott sie geschaffen hat oder einfach nur deshalb, weil es wahrscheinlicher ist, dass etwas existiert, als dass nichts existieren würde?
Wenn wir heute von Gott sprechen, geht es nicht mehr allein darum, zu zeigen, dass der christliche Gott über anderen Göttern steht, wie man beispielsweise früher den Heiden klargemacht hat, dass Gott nicht im Gewitter oder in einem Baum oder Götterbild ist. Es geht heute vielmehr darum zu zeigen, dass es überhaupt einen Gott gibt. Glaube bedeutet, bei all unserer heutigen Erkenntnis der Welt auch sicher zu sein, dass es Gott gibt, dass er existiert und sein Wesen durch den Menschen erkennbar und - in der Wissenschaft der Theologie - objektiv vermittelbar ist.
In seinem Werk Proslogion - Anrede denkt Anselm nicht nur über Gott nach, sondern er wendet sich immer wieder im Gebet an ihn. Er will Gott verstehen, aber nur wenn das Denken eintritt in den Dialog mit Gott kann es etwas von dem ergründen, der letztlich alles Denken übersteigt.

Wohlan, jetzt also, Du mein Herr-Gott, lehre mein Herz,
wo und wie es Dich suche,
wo und wie es Dich finde.
Herr, wenn Du hier nicht bist,
wo soll ich suchen Dich Abwesenden?
Wenn Du aber überall bist,
warum sehe ich nicht den Anwesenden?
Doch gewiss "wohnst Du in einem unzugänglichen Lichte".
Und wo ist das unzugängliche Licht?
Oder wie werde ich zu dem unzugänglichen Lichte gelangen?
Oder wer wird mich führen und in es hineinführen,
damit ich Dich in ihm sehe?

Für Anselm ist klar, dass Gott nicht an einem bestimmten Ort zu finden ist, sondern dass er allgegenwärtig ist. Aber doch bleibt er verborgen. Ist er deshalb nur eine Illusion unseres Denkens? Anselm nähert sich Gott im Glauben. In seinem Herzen erfährt er eine Liebe, die nur von Gott kommen kann. Weil er dieser Liebe glaubt, kann er im Denken weiter gehen und immer tiefer nach Gott forschen.

Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, denn auf keine Weise stelle ich ihr meinen Verstand gleich; aber mich verlangt, Deine Wahrheit einigermaßen einzusehen, die mein Herz glaubt und liebt.
Ich suche ja auch nicht einzusehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um einzusehen. Denn auch das glaube ich: wenn ich nicht glaube, werde ich nicht einsehen.

Der Weg zu Gott führt nicht über das Denken, mit Nachdenken allein kommt der Mensch nicht zu Gott, sondern das Denken ist dem Glauben an Gott nachgeordnet. An erster Stelle steht die Begegnung mit Gott, die Erfahrung der Liebe Gottes. Anselm steht bereits in dieser Beziehung zu Gott. Aber Anselm ist auch klar, dass diese Beziehung mit Gott nicht nur etwas Subjektives ist, sondern dass dieser Gott, den sein Herz glaubt und liebt, auch existiert und damit objektiv vermittelbar ist. Daher ist der Glaube nicht, wie viele heute denken, reine Privatsache. Wenn wir an Gott glauben, dann deshalb, weil Gott wirklich existiert, und wenn Gott existiert, dann können wir uns ihm auch mit wissenschaftlichem Denken nähern, wie wir uns auch anderem, das existiert, auf wissenschaftliche Weise nähern. Auch wenn die Wissenschaft uns eine immer komplexere Welt vor Augen führt, kann sie letztlich nicht widerlegen, dass Gott wirklich existiert.

Herr, lehre mich Dich suchen und
zeige Dich dem Suchenden;
denn ich kann Dich weder suchen,
wenn Du es nicht lehrst,
noch finden, wenn Du Dich nicht zeigst.
Lass mich Dich verlangend suchen,
suchend verlangen.
Lass mich liebend finden,
findend lieben.
Amen.
Anselm von Canterbury

Anselm wurde 1033 (oder 1034) in Aosta in Piemont als erstgeborener Sohn einer Adelsfamilie geboren. Seine fromme Mutter schickte ihn zur Erziehung und ein nahes Benediktinerkloster. Dort reifte in ihm der Wunsch, Mönch zu werden. Doch sein Vater stellte sich mit aller Kraft gegen diesen Plan seines Sohnes. Anselm wurde schwer krank, dann entfloh er dem Elternhaus und ging nach Frankreich. Dort gab es damals Schulen und Lehrer, deren Gelehrsamkeit alles übertraf.
Anselm suchte Bildung und fand bald zu einem der gelehrtesten Männer seiner Zeit, Lanfrank, den Prior der Benediktinerabtei von Bec in der Normandie. 1060 trat er in das damals sehr berühmte Kloster Bec ein und wurde im Jahr 1079 selbst Abt dieses Klosters. 1093 wurde er trotz seines heftigen Widerstands Erzbischof von Canterbury und somit nach dem König der zweitwichtigste Mann im Königreich England.
Anselm trägt den Titel eines Kirchenlehrers und wird der Vater der Scholastik genannt, jener theologischen Denkrichtung, die bis vor etwa 100 Jahren für die katholische Kirche bestimmend war. Bis hin zu Anselm kam es in der Theologie vor allem darauf an, die Inhalte des Glaubens mit Zitaten aus der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern zu belegen. Anselm will einen anderen Weg gehen. Mittels der wissenschaftlichen Disziplinen der Rhetorik und Dialektik will er die Glaubensinhalte allein mit der Vernunft erklären. Somit müssen seiner Meinung nach auch Nicht- und Andersgläubige, die den Glauben Anselms nicht nachvollziehen können, zu der Erkenntnis kommen, dass die Inhalte dieses Glaubens wahr sind. Die drei bedeutendsten Schriften Anselms sind das Monologion (Selbstgespräch), das Proslogion (Anrede) und Cur Deus Homo (warum Gott Mensch wurde).
Glaubensinhalte sind für Anselm keine der Beliebigkeit preisgegebenen Meinungen, sondern objektive Wahrheiten. Sie sind wahr, unabhängig vom Glauben des einzelnen, weil ihre Wahrheit nach den Gesetzen der Vernunft bewiesen werden kann. Anselm wollte so zeigen, dass Gott existiert, dass er gut und gerecht ist, dass Gott dreieinig ist und dass er der Grund und das Ziel der Welt ist und dass der Mensch als Ebenbild Gottes nur in Gott seine Glückseligkeit findet.
Dabei war Anselm selbst ein tiefgläubiger Mensch. Die Klarheit und logische Strenge seines Denkens hatten immer zum Ziel, den Geist zur Betrachtung Gottes zu erheben. Wer Theologie betreiben will, kann nicht allein auf den Verstand zählen, sondern muss gleichzeitig eine tiefe Glaubenserfahrung pflegen. Es geht Anselm nicht darum, nach Vernunfteinsichten zu suchen, um glauben zu können, sondern er glaubt, um Einsicht zu gewinnen. Es ist der Glaube, der die Erkenntnis sucht (fides quaerens intellectum). Nicht die Erkenntnis steht an erster Stelle, sondern der Glaube. Anselm sagt ganz deutlich:

Ich glaube, um zu begreifen (credo ut intellegam).

In langen Überlegungen sucht Anselm nach einem Argument, mit dem die Existenz Gottes zweifelsfrei bewiesen werden kann. Daraus ist sein sogenannter ontologischer Gottesbeweis entstanden. Anselm geht davon aus, dass alle Menschen, ob gläubig oder ungläubig, unter dem Begriff "Gott" jenes Wesen verstehen "über das hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann." Der Gläubige hält dieses Wesen für existent, für den Ungläubigen ist es nur ein Begriff des Denkens.
Die bis heute umstrittene These Anselms besteht darin, dass auch der Ungläubige, wenn er in seinem Denken den Gesetzen der Vernunft folgt, das Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, als existierend denken muss. Es kommt Anselm also auf das folgerichtige Denken an und deshalb darf für ihn, damit sein Beweis schlüssig ist, die Definition Gottes auch nicht lauten, Gott sei das vollkommenste Wesen, sondern muss, wie oben genannt, lauten, dass Gott das Wesen ist, über das hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann.
Wenn nun der Ungläubige sagt, es existiere kein Wesen, über das hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann, so kann doch in Gedanken dieses als nichtexistent behauptete Wesen verglichen werden mit einem Wesen jener Art, das auch existiert. Ein Wesen, das existiert, ist aber vollkommener als eines, das nur gedacht wird und daher muss das Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, auch als existierend gedacht werden.
Mit anderen Worten: Jeder Mensch kann sich in seinem Denken ein Bild von Gott machen, und wenn er sich Gott denkt, so denkt er ihn als ein Wesen, über das hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann. Wenn ein Mensch ein solches Wesen denkt, so kann er es sowohl als existierend, aber auch als nicht existierend denken. Weil jeder Mensch aber beides vermag, muss dieses Wesen, das als existierend gedacht werden kann, auch in Wirklichkeit existieren, weil das, was existiert, größer ist als das, was nur gedacht wird. Es wäre daher inkonsequent, ein Wesen, über das hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann, nur im Denken und nicht auch in der Wirklichkeit als existierend anzunehmen.
Schon zu Lebzeiten Anselms schrieb ein Mönch Namens Gaunilo einen Einwand gegen diesen Gottesbeweis, den Anselm aber mit einer Gegenschrift entkräftigte. Dennoch wollte Anselm, dass die Einwände Gaunilos zusammen mit seiner eigenen Schrift veröffentlicht werden.

Die letzten Jahre seines Lebens verbringt Anselm im Exil in Süditalien, wohin er sich nach Auseinandersetzungen mit dem englischen König begeben musste. Sein Werk wird noch viele Theologen und Philosophen bis in unsere Zeit hinein beschäftigen. Anselm zeigt uns, dass "frommer Glaube" und "vernünftiger Glaube" keine Widersprüche sind, sondern einander ergänzen. Es ist der Glaube selbst, der das vernünftige Denken des Menschen herausfordert. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ist für die Gläubigen zu allen Zeiten eine Herausforderung.

Lauschen wir noch ein wenig seinen Worten aus dem Prolog seines Werkes Proslogion:

Wohlan nun, Mensch, entfliehe ein wenig deinen Beschäftigungen, verbirg dich ein Weilchen vor deinen lärmenden Gedanken. Wirf ab nun deine beschwerlichen Sorgen und lege deine mühevollen Geschäfte beiseite.
Sei frei ein wenig für Gott und ruhe ein bisschen in ihm.
Tritt ein in die Kammer deines Herzens, halte fern alles außer Gott und was dir hilft, ihn zu suchen, und hinter verschlossener Türe suche ihn.
Sprich jetzt, mein ganzes Herz, sprich jetzt zu Gott: "Ich suche Dein Antlitz; Dein Antlitz, Herr, suche ich."

Was soll tun, höchster Herr, was soll dieser Dein in die Ferne Verbannter tun? Was soll Dein Knecht tun, der ängstlich besorgt ist in Liebe zu Dir und weit hinweg von Deinem Antlitz verstoßen ist?
Er lechzt Dich zu sehen - und allzu ferne ist ihm Dein Antlitz; er begehrt zu Dir zu gelangen - und unzugänglich ist ihm Deine Wohnung; er wünscht Dich zu finden - und weiß nicht Deinen Ort; er verlangt Dich zu suchen - und kennt nicht Dein Antlitz.
Herr, mein Gott bist Du und mein Herr bist Du - und niemals habe ich Dich gesehen; Du hast mich geschaffen und erneuert und alle Güter hast Du mir verliehen - und noch habe ich Dich nicht erkannt; schließlich wurde ich geschaffen, um Dich zu sehen - und noch habe ich nicht getan, wofür ich geschaffen wurde. ...
Ich flehe, Herr, zu Dir, lass mich nicht seufzend verzweifeln, sondern in Hoffnung aufatmen! Ich flehe, Herr, bitter geworden ist mein Herz in seiner Verlassenheit, versöhne es durch Deinen Trost! Ich flehe, Herr, hungernd begann ich Dich zu suchen, lass mich nicht ungespeist von Dir gehen! ...
Ich bekenne, Herr, und sage Dank, dass Du mach als Dein Ebenbild erschaffen hast, damit ich, Deiner mich erinnernd, Dich denke, Dich liebe. ...
Herr, ich versuche nicht, in Deine Höhe vorzudringen, mein Verstand kann Dich ja auf keine Weise erreichen. Aber ich verlange danach, Deine Wahrheit einigermaßen zu begreifen, die mein Herz glaubt und liebt.
Denn ich suche nicht zu begreifen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu begreifen. Denn auch das glaube ich: wenn ich nicht glaube, werde ich nicht begreifen.