Jahreskreis A

21. Sonntag

Erste Lesung

Jes 22,19-23

So spricht der Herr zu Schebna, dem Tempelvorsteher:
Ich verjage dich aus deinem Amt, ich vertreibe dich von deinem Posten. An jenem Tag werde ich meinen Knecht Eljakim, den Sohn Hilkijas, berufen. Ich bekleide ihn mit deinem Gewand und lege ihm deine Schärpe um. Ich übergebe ihm dein Amt, und er wird für die Einwohner Jerusalems und für das Haus Juda ein Vater sein. Ich lege ihm den Schlüssel des Hauses David auf die Schulter. Wenn er öffnet, kann niemand schließen; wenn er schließt, kann niemand öffnen. Ich schlage ihn an einer festen Stelle als Pflock ein; er wird in seinem Vaterhaus den Ehrenplatz einnehmen.

Zweite Lesung

Röm 11,33-36

O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege. Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, so dass Gott ihm etwas zurückgeben müsste? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Evangelium

Mt 16,13-20

In jener Zeit, als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger:
Für wen halten die Leute den Menschensohn?
Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten.
Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich?
Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!
Jesus sagte zu ihm: Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus - der Fels -, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.
Dann befahl er den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der Messias sei.
Jesus Christus

Jesus, Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16)

Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn? (Mt 16,13)

Jesus zieht mit seinen Jüngern das Jordantal hinaus bis weit nach Norden. Dort liegt am Fuße des Hermon-Gebirges die Stadt Cäsarea Philippi, in deren Umgebung der Banyas, einer der Quellflüsse des Jordan, entspringt. Nur wenige Kilometer entfernt liegt die alte jüdische Stadt Dan, die nördlichste Stadt Israels gemäß der biblischen Verheißung, nach der das gelobte Land von Dan (im Norden) bis Beerscheba (im Süden) reicht.

Es heißt aber nicht einfach Cäsarea, sondern Cäsarea Philippi, weil es noch ein anderes Cäsarea am Meer gibt, das Cäsarea Stratonis heißt. Nicht in diesem aber, sondern in jenem fragte er seine Jünger. Er führte sie weit von den Juden weg, damit sie ganz ohne Furcht frei sagen konnten, was sie dachten. Jener Philippus aber war der Bruder des Herodes, des Tetrarchen von Ituräa und Trachonitis. Er nannte die Stadt "Cäsarea" zu Ehren des Kaisers Tiberius, heute heißt sie Paneas (Banjas). (Johannes Chrysostomus)

Bei der Stadt befand sich ein wichtiges Heiligtum des Pan, das an die Stelle einer früheren Kultstätte des Baal getreten war. An der Quelle des Flusses lassen sich heute noch die Nischen erkennen, in denen die Götterstatuen standen. Der römische Kaiser Augustus hat diese Gegend dem Herodes geschenkt, der ca. 20 v.Chr. dort einen Tempel für Augustus und die Göttin Roma errichten ließ. Der Sohn des Herodes, der Tetrarch Philippus, errichtete hier die Hauptstadt seines Herrschaftsgebiets und nannte sie "Cäsarea" zu Ehren des römischen Kaisers. Alte Handelswege verbanden die Stadt mit Tyrus und Damaskus.
Ursprünglich entsprang der Fluss aus einer hoch im Felsen gelegenen Grotte. Ein Erdrutsch führte aber dazu, dass das Wasser nun tiefer aus dem Berg austritt. Zurück blieb die Grotte, die wegen ihrer düsteren Tiefe auch als Tor zur Unterwelt (Hades) bezeichnet wird. Flavius Josephus schreibt darüber:

Hier steigt ein Berg in eine schwindelnde Höhe auf und neben der unten am Berg befindlichen Schlucht öffnet sich eine düstere Grotte, in der sich ein Abgrund in unermessliche Tiefe hinabsenkt, der mit stehendem Wasser angefüllt ist. Will man mit dem Senkblei die Tiefe ausloten, so reicht keine noch so lange Schnur aus.

Wir können uns vorstellen, wie die Jünger Jesu staunend vor der hohen Felswand standen und wie ihnen ein Schauder über den Rücken lief, als ihnen Einheimische die Geschichten vom Tor des Hades erzählt haben. Direkt vor Augen stand ihnen auch der mächtige Tempel, den Herodes zu Ehren der römischen Kaiser errichten ließ. Und wer sind sie selbst? Ein paar armselige Fischer, dir einem einfachen Rabbi aus dem Hinterland gefolgt sind. Ist dieser einfache Jesus tatsächlich Gottes Sohn? Jesus weiß, was in den Jüngern vorgeht und er überrascht sie mit seiner Frage. Petrus ist der erste, der die Fassung wiedergewinnt und eine klare Antwort auf die Frage Jesu findet.

Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. (Mt 16,14)

Für wen halten die Leute den Menschensohn? Diese Frage Jesu an seine Jünger hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Die Menschen damals haben Jesus mit einem der Propheten in Zusammenhang gebracht. Heute halten manche Jesus einfach für einen besonders guten Menschen, für einen besonders weisen Menschen, einen Religionsgründer, wie es ihn auch in anderen Religionen gibt, wie zum Beispiel Buddha oder Mohamed. Oder Jesus wird zum Sozialreformer, zum Kämpfer für die Armen. Man könnte die Liste wohl unbegrenzt erweitern.

Die Jünger hatten einfach die Meinung der Menge wiedergegeben, indem er sie nun ein zweites Mal fragt, fordert er sie heraus, von ihm größer zu denken. ... Für sie, die immer bei ihm gewesen sind und größere Zeichen als die Menge gesehen haben, ist es nicht angemessen, dieselbe Meinung wie die Menge zu haben. Das war auch der Grund, warum er sie nicht am Anfang seiner Verkündigungstätigkeit danach fragte, sondern erst nachdem er viele Zeichen getan hatte und bereits viel von seiner Gottheit gesprochen hatte. (Johannes Chrysostomus)

Es gibt viele Meinungen über Jesus, aber entscheidend ist: was glaube ich? Über Jesus eine Meinung haben kann letztlich nur, wer ihm wirklich begegnet ist. Doch wie bei allem reden die Menschen viel ohne wirklich Bescheid zu wissen oder überhaupt darüber nachgedacht zu haben. Darum fragt Jesus noch einmal gezielt nach.

Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! (Mt 16,15-16)

Jesus ist Gott und Gottes Sohn. Alle anderen Antworten, die in Jesus nur einen besonderen Menschen sehen, greifen zu kurz. Wer Jesus das Gott-Sein abspricht, wird ihm nicht gerecht. Was aber bedeutet, dass Jesus Gott ist und Gottes Sohn, der auf Erden Mensch geworden ist? Das ist ein Geheimnis, über das die Menschen zu allen Zeiten nachgedacht und auch gestritten haben.
Wenn man also eh nicht so genau weiß, was es mit diesem Jesus auf sich hat, der vor etwa 2000 Jahren hier auf Erden gelebt haben soll, kann man dann nicht jedem sein eigenes Jesusbild machen lassen? Im Wort Jesu an Petrus meine ich zu lesen, dass Jesus selbst es anders gewollt hat.

Jesus sagte zu ihm: Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein. (Mt 16,17-19)

Simon Barjona, nur hier nennt Jesus ihn so. Spielt Matthäus hier auf das Zeichen des Jona an, von dem unmittelbar zuvor die Rede war? Ist Simon ebenso wie Jona ein Zeuge und Verkünder, der eine zweite Berufung braucht? Wir denken hier an seine Verleugnung Jesu und an die Frage des Auferstandenen an ihn: "Liebst du mich?", die uns Johannes überliefert. Zugleich trägt Simon auch den Beinamen Petrus, der Fels, und als dieser wird er zum Fundament der Kirche. Wenn Jesus hier von den Mächten der Unterwelt spricht, so spielt Matthäus hier sicher an die Tore des Hades an, vor denen Jesus mit seinen Jüngern gerade stand. Keine dunkle Macht und scheint sie noch so mächtig, kann das Reich Gottes überwältigen, denn es steht fest gegründet auf einen Felsen, der mächtiger ist als der Fels von Cäsarea Philippi.

Als denkbar festes Fundament der vom Messias Jesus zu erbauenden Heilsgemeinde soll Simon das sichernde Prinzip ihres Bestandes und ihrer Einheit sein. Und in dieser Funktion wird er mit heilsmittlerischer Vollmacht ausgestattet sein, wie das Bildwort von der Übergabe der Schlüssel zum Himmelreich und die Übertragung verbindlicher Binde- und Lösegewalt erläuternd hinzufügen. (Anton Vögtle)
Tu es Petus

Petrus hat im Namen aller Apostel und im Auftrag des Vaters Zeugnis für Jesus ablegt. Auf Petrus als den verlässlichen, von Gott eingesetzten Zeugen, baut Jesus Christus seine Kirche, die durch nichts erschüttert werden kann. So ist die Kirche der Garant für die wahrheitsgemäße Vermittlung der Offenbarung Gottes. Gott beruft in dieser seiner Kirche immer wieder Menschen, die in seinem Namen von der Wahrheit Zeugnis geben. Gott will die Kirche. Seine Offenbarung soll nicht von jedem Menschen eigenmächtig ausgelegt, sondern Gott selbst bestellt Menschen, die in seinem Namen das sagen, was er gesagt haben will.
Man kann einwenden, dass die Kirche doch aus vielen fehlerhaften Menschen besteht und dass durch die Kirche auch viel Unrecht geschehen ist. Ohne Zweifel, die Kirche besteht aus Menschen mit ihren Fehlern. Auch Petrus war schwach, er wird Jesus verleugnen. Aber doch ist die Kirche mehr als die Menschen in ihr. Die Kirche ist die Braut Christi, die er sich angetraut hat. Daher liebt Christus die Kirche und führt sie durch alle Schwierigkeiten hindurch. Er beruft immer wieder Menschen, die die Fehler anderer wieder gut machen, soweit das eben möglich ist. Daher ist die Kirche als ganze heilig und kann auf Dauer nicht irren.
Jesus liebt seine Kirche. Er will, dass auch wir die Kirche lieben, dass wir zu ihr halten, trotz aller Fehler, die wir in ihr sehen. Jesus will, dass wir in Einheit stehen mit dem Nachfolger des Apostels Petrus, dem Papst in Rom. Wenn wir in Liebe mit der Kirche verbunden sind und auf sie hören, dann erfahren wir auch die Wahrheit darüber, wer Jesus Christus ist.

Dann befahl er den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der Messias sei. (Mt 16,20)

Jesus ist der Messias, auf den Israel gewartet hat und der Gottes Licht und Weisheit der ganzen Welt verkündet. Die Jünger wissen es nun sicher. Aber den anderen Menschen bleibt dieses Geheimnis noch verborgen. Erst nach Jesu Tod und Auferstehung soll es der ganzen Welt verkündet werden. Sie sind notwendig, damit der Messias die ganze Gerechtigkeit Gottes erfüllt. Von dieser Notwendigkeit spricht Jesus in den folgenden Worten und dort werden wir auch sehen, dass Petrus trotz der großen Worte, die an ihn ergangen sind, immer noch ein schwacher Mensch bleibt, der erst noch lernen muss, was es bedeutet, Jesus nachzufolgen.

Wer war Jesus?

Es gibt viele Aussagen darüber, wer Jesus war. Man kann ganz allgemein über ihn nachdenken, klar. Vielleicht war Jesus ein Kämpfer, ein großer Prophet, ein Wunderheiler? Es ist schon so lange her, dass Jesus gelebt hat. Wie soll man das heute so genau wissen?

Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.

So bekennt ihn Simon Petrus. Was sage ich dazu? Hat Jesus für mich heute noch eine Bedeutung? Klar, in der Bibel stehen so tolle Geschichten von Jesus, die kann ich auch heute noch lesen. Jesus kann ein Vorbild für mich sein und mir zeigen, wie ich ein gutes Leben führe.
Um zu erfahren, was Jesus für mich heute bedeutet, kann es hilfreich sein, die Frage Jesu etwas umzuformulieren:

Wer bin ich - für dich?

Dann werde ich vielleicht stutzig. Wie, du sprichst mich direkt an, Jesus? Bist du nicht schon fast 2000 Jahre tot? Du bist auch heute noch hier mitten unter uns gegenwärtig sagst du? Wie ist das möglich? Ich kann dir begegnen, auch hier und jetzt und heute? Was du getan hast, hast du auch für mich getan? Du kennst mich und weißt von mir? Du willst immer bei mir sein?
Dann warst du nicht nur ein Prophet wie andere Propheten, die gestorben sind? Nicht nur ein besonderer Mensch, dessen Worte und Taten uns ein Vorbild sind, der aber heute nicht mehr existiert? Jesus, dann bist du ewig und immer und überall - bist wirklich GOTT?
Jesus, zeige mir, wer du wirklich bist. Ich will dich in mein Leben hinein lassen, als meinen besten Freund, der immer bei mir ist

Jesus, wer bist du für mich?
Ein besonderer Mensch, ein Prophet,
ein Wunderheiler?
Und mal anders gefragt, Jesus, wer bin ich für dich?
Ein Punkt in der Menge,
ein Rädchen im Getriebe?
Wer groß von Jesus denkt
der macht sich auch selber groß.
Für Petrus ist Jesus der Messias,
der Sohn des lebendigen Gottes.
Für Jesus ist Petrus der Fels,
auf den er seine Kirche baut.
Jesus,
du bist der Grund meines Lebens,
ein Freund, der immer bei mir ist.
Jesus, du kennst mich.
Für dich bin ich einmalig und wertvoll,
bin Gottes geliebtes Kind.

Unergründliche Tiefe (Röm 11)

Wer war Jesus und was bedeutet das für uns? Diese Frage stellt auch Paulus im Römerbrief. Jesus ist für ihn der Sohn Gottes, der Retter der Welt. Aber was bedeutet es, dass so viele Menschen Jesus ablehnen, ja dass vor allem Gottes auserwähltes Volk Jesus nicht als Messias akzeptieren kann?
Jesus Christus und die ersten Christen waren ausnahmslos Juden. Jesus fühlt sich nur zu den Juden gesandt, um ihnen die sein Evangelium zu verkünden, die Botschaft von der Rettung aller Menschen. Doch nur wenige Juden glauben daran, dass er der verheißene Messias ist, der Sohn des lebendigen Gottes. Viele unter den Juden, allen voran die Führungselite des jüdischen Volkes, halten Jesus viel mehr für einen Gotteslästerer und einen Lügenpropheten, der das Volk verführt. Daher musste Jesus am Kreuz sterben. Gläubige Juden warten bis heute auf den Messias.
Paulus beschäftigt sich im Römerbrief wie viele andere Christen zu allen Zeiten mit der Frage, was das bedeutet. Als Christen glauben wir, dass Jesus wirklich der Sohn Gottes ist. Also müssen die Juden, die Jesus ablehnen, im Irrtum sein. Oft haben Christen daraus den Schluss gezogen, dass diese Ablehnung Jesu für die Juden die Verwerfung bedeutet. Sie waren Gottes auserwähltes Volk, aber sie haben den Sohn Gottes, der zu ihnen gesandt war, getötet. Daher haben sie aufgehört, Gottes Volk zu sein und man muss auf die Juden keine Rücksicht mehr nehmen. Das war die Grundlage für das unmenschliche Verhalten gegen die Juden zu allen Zeiten.
Doch Paulus findet eine andere Lösung für dieses Problem. Viele Juden haben Jesus Christus nicht als Sohn Gottes erkannt. Sie sind verblendet, ungehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Aber sie bleiben Gottes Volk. So wie im Laufe der Geschichte das Volk immer wieder ungehorsam war, doch immer wieder zu Gott zurück gefunden hat, so ist es auch jetzt. Ja ihr Ungehorsam hat sogar einen gewissen Nutzen, denn ohne ihn wäre das Christentum vielleicht eine Form des Judentums geblieben, so aber kam es zu einer Abspaltung der Christen von den Juden, die Christen wandten sich mit ihrer Mission an die Heiden und in der Kirche konnte etwas ganz Neues entstehen.
Christentum und Judentum bestehen seither weitgehend getrennt nebeneinander fort. Und doch verbindet sie vieles. Sie eint der Glaube an den einen Gott und das Fundament der Heiligen Schrift des Alten Bundes. Gott ist in beiden gegenwärtig, in seinem erwählten Volk des Alten Bundes, dem Judentum, und dem erwählten Volk des Neuen Bundes, den Christen. Gott hat sein Volk nicht verworfen. Er will beide Völker zur Vollendung führen und Paulus hat die Hoffnung, dass Gott einmal Juden und Christen zu einem Volk zusammenführen wird. Nur Gott versteht seine Pläne. Wir Menschen erkennen nur unvollkommen. Das macht Paulus in dem Ausruf deutlich, der am Ende des langen Abschnittes über die Frage nach der Erwählung und Rettung Israels steht:

Hl. Schrift
O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, sodass Gott ihm etwas zurückgeben müsste?
Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. (Röm 11,33-36)

Nur Gott erkennt vollkommen. Wir Menschen haben kein umfassendes Bild der Wirklichkeit. Und doch meinen wir immer wieder, dass unsere begrenzte Erkenntnis die ganze Wahrheit ist. Das hat immer wieder zu fatalen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen geführt. Menschliche Engstirnigkeit bringt zu allen Zeiten viel Leid über die Erde. Menschen maßen sich an, dass ihre begrenzte Erkenntnis die volle Wahrheit ist und grenzen Menschen aus, die anders denken. Das geschieht nicht nur in totalitären Regimen, sondern überall, auch heute und bei uns.
Gefährlich wird es immer dann, wenn in einem Streit nicht das Verbindende gesehen wird, sondern das Trennende immer stärker betont wird, und wenn Anführer aufeinander treffen, die diese Meinungsunterschiede für die Legitimierung ihrer Machtkämpfe nutzen. Dann entsteht ein oft unentwirrbares Ineinander von Meinungskampf und Machtkampf und es ist kein freier Meinungsaustausch mehr möglich, da es beiden Seiten zugleich um Macht und Einfluss geht.
So kam es dazu, dass Christen und Juden nicht in einem friedlichen Miteinander als zwei Völker Gottes nebeneinander bestehen konnten. Auf beiden Seiten gab es Menschen, die das Trennende zwischen Juden und Christen betonten und nicht die Gemeinsamkeiten. Mussten anfangs christliche Gemeinden unter den Angriffen der Juden leiden, so gewannen bald die Christen die Überhand und es kam durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Juden.
Doch bald fingen die Christen an, sich auch untereinander zu bekämpfen. Besonders unter den hochgebildeten Bischöfen des Ostens kam es zu Auseinandersetzungen über die Frage, wer Jesus Christus war, wie in ihm Gott-Sein und Mensch-Sein miteinander in Beziehung standen. Bald gab es Kämpfe um die Reinheit des Glaubens, in die auch die weltliche Macht mit einbezogen wurde. Einige Auseinandersetzungen waren sicher notwendig, um den Glauben vor Irrlehren zu bewahren, bei vielen Kämpfen ging es aber auch um Machtansprüche. Die Wunden schmerzen der Kirche bis heute.
Es kam zur Trennung von Ost- und Westkirche, schließlich wurde mit der Reformation eine weitere tiefe Wunde in das Herz der Kirche gerissen. Auch hier wurde der gerechtfertigte Ruf nach einer Reform der Kirche bald untrennbar mit weltlichen Machtansprüchen verknüpft und einige Herrscher konnten durch die Trennung von Rom ihren Einfluss vergrößern. Trotz der vielfältigen Ansätze der Ökumene überwiegt bis heute das Trennende die Gemeinsamkeiten.
Auch in der Wissenschaft hat menschliche Engstirnigkeit oft einen tieferen Austausch und eine Weiterentwicklung gehemmt. Es hat lange gedauert, bis wir schließlich unsere Erde als einen kleinen Planeten im Universum erkannt haben, der mit anderen Planeten um die Sonne kreist. Dann aber kam das mechanische Weltbild, das die ganze Welt durch physikalische Gesetze erklärbar und vorhersehbar sah und keinen Platz mehr lassen wollte für das Wirken einer transzendenten Gottheit.
Heute vor allem durch die Quantenphysik wird klar, dass das Weltbild der newtonschen Physik nur für einen Teil der Wirklichkeit Geltung hat. Auch wenn immer wieder nach einer Weltformel gesucht wir, entdecken wir, dass die Gesetze des Universums immer phantastischer werden und noch vieles unentdeckt ist. Wir erkennen auch immer mehr, dass die Natur mit blindem Materialismus nur ungenügend erklärbar ist. Die Natur birgt Geheimnisse, die Menschen früherer Zeiten viel besser verstanden haben als wir heute. Wir fangen wieder an zu entdecken, dass ein Leben im Einklang mit der Natur viel profitabler sein kann als materialistisches Wirtschaften, das zwar einigen schnellen Gewinn beschert, aber letztlich der Allgemeinheit exorbitant hohe Schäden hinterlässt.
Es würde zu weit führen, hier alles im Detail darzulegen. Worauf ich aufmerksam machen möchte ist, dass wir uns immer im Klaren darüber sein müssen, dass wir nur einen Teil der Wirklichkeit erkennen, dass unsere Wahrnehmung stets vorgeprägt ist, und dass wir nie einen Sachverhalt oder Gegenstand objektiv in seiner Ganzheit verstehen können. Wir müssen stets vorsichtig sein gegen jede Meinungsmache von rechts aber auch von links. Beide Seiten haben ihre berechtigten Ansichten, beide Seiten schießen aber über das Ziel hinaus. Es ist schwer, einen Platz in der Mitte zu halten, der die berechtigten Ansprüche beider Seiten sieht, sich aber von falschgeleiteten doktrinären Ansätzen deutlich distanziert.
Menschen fällt es immer leicht, sich für etwas zu entscheiden, das kompakt und verständlich daher kommt. Doch gerade das, was einfach erscheint, hat viele Mängel. Wir können uns nicht mit allem im Detail beschäftigen. Unser Wissen bleibt zwangsläufig begrenzt. Aber gerade deshalb müssen wir uns eine gesunde Distanz zu allem bewahren, was uns einfache Erklärungen liefern will. Wir müssen uns stets eine gesunde Offenheit bewahren für die verborgenen Geheimnisse der Wirklichkeit, die sich hinter den vielen Meinungen verbergen.
Dazu kann uns der Satz des Paulus helfen, den ich hier noch einmal zitieren möchte:

O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! (Röm 11,33)

Haben wir Mut, in die Tiefe zu gehen und nicht an der Oberfläche stehen zu bleiben. Ja, wir müssen uns eine Meinung bilden, wir müssen Stellung beziehen zu den Fragen dieser Zeit. Aber unsere Meinung sollte nicht auf den Parolen der Populisten jedweder Richtung basieren, sondern auf dem Hinterfragen von allem, was man uns vorlegt. Vor allem müssen wir uns immer dessen bewusst sein, dass die Meinung, die wir uns gebildet haben, nicht der Wahrheit entspricht, sondern allenfalls eine Annäherung daran ist. Daher müssen wir auch stets den Mut haben, unsere Meinung zu ändern, wenn wir etwas entdeckt haben, mit dem wir der Wahrheit näher kommen als bisher.

Herr, mein Gott,
lass mich dich in allem erkennen, denn du bist der Schöpfer von allem und du hast deine Spuren in alles gelegt.
Lass mich stets wachsam sein, wenn andere mich mit ihrer Meinung beeinflussen wollen. Lehre mich tiefer zu blicken, nachzuforschen, und den Dingen auf den Grund zu gehen.
Lass mich nicht getrieben sein vom Gewirr der Meinungen, sondern gib mir eine feste Überzeugung, die ich gegen andere Meinungen verteidigen kann.
Aber gib mir auch den Mut, meine Überzeugung zu revidieren, wenn ich einen Fehler darin erkannt habe.
Lass mich die Welt immer mehr mit deinen Augen sehen, mit den Augen der Liebe, die das Sein hinter dem Schein entdeckt und erkennt, worauf es wirklich ankommt im Leben.
Amen.