Hildegard von Bingen
1098-1179
Kirchenlehrerin
"Willst du dich jetzt mit Naturheilkunde beschäftigen?", fragte mich ein Kollege, als er mich mit einem Buch über die Hl. Hildegard sah. Hildegard-Medizin, Kochrezepte, Kuren und vieles mehr haben heute Hochkonjunktur und machen Hildegard zu einer der bekanntesten Frauen des Mittelalters, weit über den Rahmen der Kirche hinaus. Doch Hildegard ist mehr als eine begabte Kräuterfrau, und das Bild, das viele heute von ihr haben, wird ihrem Wesen nicht gerecht. Sie war Künstlerin und Wissenschaftlerin, Ärztin, Mystikerin und Dichterin, war politisch engagiert und vor allem ging es ihr um die Verkündigung des Glaubens an Jesus Christus.
Hildegard wurde im Jahre 1098 als Kind vornehmer Elter in der Nähe von Alzey geboren. Bereits im Alter von etwa acht Jahren wurde sie zur Erziehung der Klausnerin Jutta von Sponheim übergeben. Um das Jahr 1112 bezogen Jutta und Hildegard auf dem Disibodenberg die dem dortigen Mönchskloster angegliederte Klause. Aus dieser Klause entstand bald ein Kloster der Benediktinerinnen. Nach dem Tod Juttas wurde Hildegard im Jahr 1136 zur Oberin dieses Frauenklosters auf dem Disibodenberg bestimmt.
Die unmittelbare Nähe von Männer- und Frauenkloster auf dem Disibodenberg führte zu Problemen. Hildegard gründete daher ein neues Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, in das sie im Jahr 1150 mit der Frauengemeinschaft umsiedelte und das sie selbst als Äbtissin leitete. 1165 gründete sie das Tochterkloster Eibingen bei Rüdesheim. Während vom Kloster Rupertsberg heute so gut wie keine Spuren mehr vorhanden sind und auch das Kloster auf dem Disibodenberg nur mehr eine Ruine ist, leben im Koster Eibingen bis heute Benediktinerinnen.
Der Rupertsberg galt als Musterkloster. Hildegard sorgte für die strenge Einhaltung klösterlicher Disziplin und kümmerte sich um das Wohl der ihr anvertrauten Nonnen. Viele Kranke und Pilger suchten Hilfe im Kloster, aber auch viele Vornehme suchten hier Rat. Obwohl Hildegard die meiste Zeit ihres Lebens im Kloster verbracht hat, ist ihr das Leben der Menschen nicht fremd. Ihr Leben hat sich nicht nur hinter Klostermauern abgespielt. Bald verbreitete sich der Ruf ihrer Gelehrsamkeit weit über die Grenzen des Rheingaus und sie reiste als gefragte Ratgeberin weit durch das Land.
Hildegard ist bekannt als Visionärin und Gelehrte. Schon als Kind hatte sie Visionen. Sie sagt von sich:
Bis zu meinem fünften Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzählte ich einfach, so dass die, die es hörten, sich sehr wunderten.
Da sie sich nicht verstanden fühlte, trat sie lange Zeit mit ihrer prophetischen Gabe nicht an die Öffentlichkeit. Erst im Jahr 1141 erhielt sie in einer Vision den Auftrag, das was Gott ihr sagte und zeigte, auch öffentlich bekannt zu machen.
Tu die Wunder kund, die du empfängst!
Und in der Tat ist vieles, das Hildegard wusste, ihr in einer Schau bewusst geworden. Sie beschreibt dieses Erlebnis im Vorwort zu einem ihrer bekanntesten Bücher "Scivias - Wisse die Wege!" mit folgenden Worten:
Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, sah ich ein überaus stark funkelndes Licht aus dem geöffneten Himmel kommen. Es durchströmte mein Gehirn, mein Herz und meine Brust ganz und gar, gleich einer Flamme, die jedoch nicht brennt, sondern erwärmt. Es erglühte mich so, wie die Sonne einen Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen ergießt. Und plötzlich hatte ich die Einsicht in den Sinn und die Auslegung des Psalters, des Evangeliums und der anderen Schriften des Alten und Neuen Testamentes.
Nach anfänglichem Zögern kam Hildegard dem Dienst der Verkündigung mit großem Eifer nach. In einer für eine Frau in der damaligen Zeit außergewöhnlichen Weise reiste sie durch die Lande und verkündete das, was Gott ihr sagte. Sie traf sich mit den Großen ihrer Zeit und hielt einen umfangreichen Briefwechsel. Zudem hatte sie die offizielle kirchliche Erlaubnis zu predigen, was sonst nur den Priestern vorbehalten blieb.
Hildegard begann, ihre Visionen schriftlich festzuhalten. Viele ihrer Werke sind auch heute einer großen Öffentlichkeit zugänglich. Die kirchliche Obrigkeit, Päpste und Bischöfe interessierten sich für ihre Visionen und unterzogen sie einer eingehenden Prüfung. Es konnte nichts festgestellt werden, was der kirchlichen Lehre widersprach und ihre Schriften erlangten die offizielle Anerkennung der Kirche. In dem großen Mönch und Theologen Bernhard von Clairvaux hatte sie einen bedeutenden Fürsprecher.
Neben ihren mystischen Schriften erwies sich Hildegard auch als Dramaturgin, Dichterin und Komponistin und verfasste Texte und Melodien zu 77 Liedern und ein Singspiel. Der Gedanke der Einheit und Ganzheit ist der Schlüssel zu Hildegards natur- und heilkundlichen Schriften. In ihnen hat Hildegard 280 Pflanzen und Bäume katalogisiert und nach ihrem Nutzen für Kranke aufgelistet. Der Rupertsberg wurde das Zentrum der Kranken, Hilfe- und Ratsuchenden des ganzen damaligen Rheingaus. Wahrscheinlich ist es gerade dieser Gedanke der Einheit von Leib, Seele und Geist, der Hildegards heilkundliche Schriften heute so populär macht.
Gegen Ende ihres Lebens gerät Hildegard doch in einen tiefen Konflikt mit der Amtskirche. Hintergrund sind wohl Streitigkeiten mit dem Bischof von Mainz über dessen Einfluss auf das Kloster Rupertsberg. Unter dem Vorwand, Hildegard habe auf dem Klostergut einen Adligen beerdigt, der im Zustand der Todsünde gestorben sei (Hildegard wusste jedoch über dessen gültige Beichte), wurde im Jahr 1178 über das Kloster Rupertsberg das Interdikt verhängt, was bedeutete, dass dort keine gültigen sakramentalen Handlungen mehr vollzogen werden durften, für die Nonnen, deren Lebensmittelpunkt die Feier der Heiligen Messe ist, eine Katastrophe.
Hildegard erlebte die Aufhebung des Interdikts nicht mehr. Ihre Gesundheit ist schon lange nageschlagen durch ihre rastlose Tätigkeit im Kloster und auf Reisen. Zudem leidet sie bereits ihr ganzes Leben Schwächeanfällen. Sie starb am 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg und wurde vor dem Altar in der Klosterkirche beigesetzt.
Bald nach ihrem Tod setzte ihre Verehrung ein. Obwohl bereits einige Jahre nach ihrem Tod der Antrag auf Heiligsprechung in Rom eingegangen ist, wurde das Heiligsprechungsverfahren abgebrochen, mehrere Versuche, dieses wieder aufzunehmen, scheiterten. Schließlich vermutete man, dass die Heiligsprechung erfolgt sei, jedoch die Dokumente verloren gegangen sein könnten. Ab dem 15. Jahrhundert wird Hildegard als Heilige angeführt, obwohl die offizielle Heiligsprechung nicht dokumentiert ist. An der fehlenden Heiligsprechungsurkunde scheiterte auch der Antrag der Deutschen Bischofskonferenz, Hildegard im Jahr 1979, dem Jubiläumsjahr ihrem zum 800. Todestag, zur Kirchenlehrerin zu erheben.
Erst Papst Benedikt XVI. machte dieser unklaren Situation ein Ende. Am 10. Mai 2012 erfolgte durch ihn die offizielle Heiligsprechung Hildegards von Bingen und am 7. Oktober 2012 die Erhebung zur Kirchenlehrerin. Im Dekret zur Heiligsprechung schreibt er:
So erklären wir kraft unserer apostolischen Autorität zur Ehre Gottes, zur Mehrung des Glaubens und zum Wachstum des christlichen Lebens, dass Hildegard von Bingen, Nonne des Ordens des heiligen Benedikt, heilig ist, in den Katalog der Heiligen eingetragen wird und mit frommer Andacht verehrt und unter den Heiligen der Universalkirche angerufen werden kann.
Nach Osten will ich mich wenden,
beginnen, den engen Weg zu gehen.
Gott, du allein kannst mir helfen!
Nichts Gutes vermag ich ja ohne dich,
auf dich will ich schauen,
du spendest mir Leben.
Lass deine Güte mich doch erfahren!
Zwei Augen hast du, o Gott, mir gegeben,
im Dunkeln ein herrliches Licht zu schauen,
zu wählen den Weg, den ich gehen soll.
Bin ich nun sehend oder auch blind,
ich weiß, dass ich einen Führer brauche
zum Tage hin und auch zur Nacht.
Wenn ich mich im Finstern verberge,
kann ich auch Dunkles tun;
im Licht aber werde ich gesehen
und zieh' statt Belohnung mir Strafe zu,
wenn ich dasselbe tue.
Lebendiger Gott, ich rufe dich an,
führ' mich den Weg des Lichts
und heile meine bösen Geschwüre,
damit ich am Tage mich nicht schämen muss;
zerreisse die Stricke meiner Gefangenschaft!
Hildegard von Bingen
Im Himmel ist meine Heimat,
dort begegne ich auch
den Geschöpfen;
Gottes Liebe
ist mein Verlangen,
den Turm der Sehnsucht
will ich errichten.
Was du, Gott, willst,
das will ich tun.
Mit den Flügeln des
guten Willen fliege ich
über des Himmels Gestirne,
um deinen Willen zu tun.
Nichts mehr bleibt mir
zu suchen und zu wünschen,
ich sehne mich nur
noch nach Dir.
Lass mich, o Gott,
dein Saitenspiel sein und
der Zitherklang deiner Liebe.
Hildegard von Bingen
O herrliche Mutter
der heiligen Heilkunst,
durch deinen heiligen Sohn
hast Salböl du gegossen
in Wund und Wehe des Todes.
Den Tod hast du vernichtet
und aufgebaut das Leben.
Bitt deinen Sohn für uns,
du Meeresstern, Maria!
Mittlerin des Lebens und Freude
voll Glanz, Köstlichkeit
und jeglicher Wonnen,
die allzeit dir eigen.
Bitte deinen Sohn für uns,
du Meeresstern, Maria!
Dem Vater sei die Ehre,
dem Sohn und
dem Heiligen Geist.
Hildegard von Bingen
O Urkraft aus Ewigkeit!
Geordnet hast Du in Deinem Herzen das All.
Alle Dinge der Welt,
so wie sie da sind, wie Du sie gewollt,
Du hast sie geschaffen
aus Deinem Wort.
Und dieses Dein Wort,
es ward Leib,
in jener Gestalt, wie sie erwuchs uns aus Adam.
Und also ward
auch unsere leibliche Hülle
befreit von gewaltigem Leid.
O wie groß ist unseres Heilandes Güte!
Er hat alles erlöst, da er Mensch ward,
als Er - ohne die Fessel der Schuld - ausging aus Gott.
Und also ward
auch unsere leibliche Hülle
befreit von gewaltigem Leid.
Hildegard von Bingen
O wahrer Gott, welch große Geheimnisse
hast du in deinen Geschöpfen gestaltet und
dem Menschen, deinem großen Kunstwerk, untergeordnet.
Du hast die Kräfte deiner Allmacht schöpferisch entsandt;
du hast das herrliche Dach mit seinen Fenstern,
das Firmament mit seinen Leuchten, geschaffen.
An ihm hast du die Sonne festgemacht,
die mit ihrem Licht alles über der Erde
und unter der Erde erleuchtet.
Ihr sind die übrigen Leuchten verbunden,
und wie diese durch die Sonne leuchten,
so gehorchen dir alle Geschöpfe.
In dir und durch dich leben sie alle.
Durch deine Liebe ist alles geschaffen;
denn du, ewiger Gott, bist die wahre Liebe.
Hildegard von Bingen
Jesus hat uns im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg gelehrt, dass wir Geduld und Ausdauer brauchen, wenn wir Gott dienen möchten und dass wir vor allem wissen sollen, dass es der Herr ist, der ruft und uns alles gibt. Dazu schreibt die Hl. Hildegard von Bingen:
Die Liebe in den Werken des Gottessohnes hat die Milde des wahren Glaubens geoffenbart, die alles überstrahlt, als er aus Zöllnern und Sündern Märtyrer, Bekenner und Büßer erwählte und als er aus Ungläubigen Gerechte machte, wie aus Saulus Paulus.
So hat die Liebe ihr Werk allmählich und bestimmt vollendet, so dass keine Schwäche in ihm ist, sondern die ganze Fülle. Das schafft der Mensch nicht, weil er nur eine mäßige Fähigkeit hat, etwas zu tun, und es kaum aushält, bis er es zu Ende bringt, damit es von anderen gesehen wird.
Der Mensch soll das bei sich bedenken: Auch der Vogel, der aus dem Ei schlüpft und noch keine Federn hat, beeilt sich noch nicht zu fliegen; aber wenn er dann Federn bekommen hat, fliegt er dorthin, wo es ihm entsprechend erscheint.