Passionssonntag

5. Fastensonntag

Fastenzeit
Liebe

Das verhüllte Kreuz

Mit dem Passionssonntag begann vor der Neuordnung der Liturgie nach dem II. Vatikanum die Passionszeit. In der erneuerten Liturgie legte man aber mehr Wert auf die "innere Einheit der österlichen Bußzeit", weshalb die Passionszeit abgeschafft und der Passionssonntag zum Fünften Fastensonntag umbenannt wurde. Dennoch wird auch im neuen Ritus ab diesem Sonntag die stärkere Hinwendung zum Leiden und Sterben des Herrn in den Texten der Liturgie deutlich.
Seit dem Mittelalter ist es Brauch, am Passionssonntag die Kreuze und Bilder in den Kirchen zu verhüllen. Nach dem II. Vatikanum war die Beibehaltung dieses Brauchs umstritten. Im deutschen Messbuch von 1975 wurde dann jedoch eindeutig bestimmt:

Der Brauch, die Kreuze und Bilder in den Kirchen zu verhüllen, soll beibehalten werden. In diesem Fall bleiben die Kreuze verhüllt bis zum Ende der Karfreitagsliturgie, die Bilder jedoch bis zum Beginn der Osternachtsfeier.

Erste Zeugnisse für das Verhüllen von Kreuzen und Bildern finden sich im 12. und 13. Jahrhundert. Bereits im 11. Jahrhundert wurde teilweise der gesamte Altarraum mit sogenannten Fasten- oder Hungertüchern den Blicken des Volkes entzogen. Später wurden diese Tücher kleiner und verhüllten nicht mehr den Altarraum, statt dessen kam aber der Brauch auf, Bilder und Kreuze zu verhüllen. Hungertücher gibt es bis heute. Das kirchliche Hilfswerk Misereor erinnert mit ihnen an das Leiden des Herrn und an unsere Verantwortung für die leidenden Menschen in der ganzen Welt.

Das traditionelle Evangelium zum Passionssonntag war Johannes 8,46-59, ein Streitgespräch Jesu mit den Juden über die Bedeutung Abrahams. Jesu Wort "ehe Abraham wurde bin ich" führte dazu, dass die Juden Jesus steinigen wollten. "Jesus aber verbarg sich und verließ den Tempel", heißt es am Ende des Evangeliums. Ähnlich wie Johannes 12,36 zeigt dieses Wort den Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit in der Zeit vor seinem Leiden. Mittelalterliche Ausleger bringen diese Stelle mit der an diesem Tag üblich gewordenen Verhüllung der Kreuze in Verbindung. Wie damals, so entzieht sich auch heute Christus in den Tagen vor seinem Leiden den Blicken der Menschen.

Der Brauch des Verhüllens könnte auch in Zusammenhang mit der öffentlichen Buße entstanden sein. Wer eine solche Buße zu leisten hatte, wurde während der Fastenzeit des Gotteshauses verwiesen. Wie alle Gläubigen das Aschenkreuz als Zeichen der Buße empfingen, so könnte die Verhüllung von Kreuzen und Bildern für alle ein Zeichen der Buße gewesen sein, ein "Fasten der Augen", denen der gewohnte Anblick der heiligen Gegenstände verwehrt wird.
Vielleicht können wir heute im verhüllten Kreuz unsere Solidarität mit all jenen Menschen zum Ausdruck bringen, deren Augen Gott verborgen ist und die seine Gegenwart nicht mehr erfahren können. Papst Benedikt XVI. sagt:

Bringen auch wir Gott im Gebet unser tägliches Kreuz, im Bewusstsein, dass er da ist und uns erhört, dass wir hineinbeten in das Beten Jesu, in das Beten der Menschheit und so in das Hören Gottes. Das Beispiel Jesu lehrt uns vor allem auch, für die vielen zu beten, die die Last des täglichen Lebens fühlen, die nur die Abwesenheit Gottes spüren und seine Anwesenheit nicht wahrnehmen, um sie in unser Gebet hinein und so zu Gott hinaufzuziehen. Dies ist die Gewissheit, mit der uns das Beten Jesu erfüllt: Gott ist gegenwärtig, seine Liebe ist größer als aller Hass und aller Schmerz dieser Welt.
Liebe

Eine weitere für uns heute nachvollziehbare Deutung findet sich in dem Satz "Verhülltes sieht man besser!" Wir sehen das Gewohnte auf ungewohnte Art, um es dann nach seiner Enthüllung wieder neu wahrzunehmen. So soll uns die Verhüllung der Kreuze "an die Erniedrigung des Erlösers erinnern und das Bild des Gekreuzigten umso tiefer in unsere Herzen prägen." (Schott von 1958)
Wie dieser tiefere Blick aussehen kann, zu dem uns die Verhüllung des Kreuzes hinführen möchte, kommt sehr schön in den Worten von Klaus Hemmerle zum Ausdruck:

Ich wünsche uns Osteraugen
die im Tod bis zum Leben,
in der Schuld bis zur Vergebung,
in der Trennung bis zur Einheit,
in den Wunden bis zur Herrlichkeit,
im Menschen bis zu Gott,
in Gott bis zum Menschen,
im Ich bis zum Du zu sehen vermögen.

Welche Gedanken kommen mir, wenn ich das verhüllte Kreuz betrachte?

Herr, du bist das Licht,
das in die Dunkelheit scheint,
die Lampe auf dem Leuchter,
die Stadt auf dem Berg.
Du bist das vollkommene Abbild Gottes.
In dir und durch dich kann ich
den himmlischen Vater sehen,
mit dir kann ich den Weg zu ihm finden.
Sei du mein Herr, mein Erlöser,
mein Weggefährte, mein Tröster,
mein Helfer, meine Hoffnung,
meine Freude und mein Friede.
Dir möchte ich alles geben, was ich bin.
Mach mich großmütig,
nimm von mir meinen Kleinmut
und meine Zaghaftigkeit.
Lass mich dir alles schenken,
alles, was ich habe, denke, tue und fühle.
Es gehört dir, o Herr.
Nimm es an,
und lass es ganz dein Eigen sein.
Amen.
Henri Nouwen